Spätsommer 2005 in Niedersachsen. Notarztdienst bei der Berufsfeuerwehr in einer großen Stadt.

Ich habe um acht Uhr am Morgen den Pieper übernommen. Jetzt ist es gut 12 Stunden und neun Einsätze später. Ich liege auf meinem Bett und gucke gerade die Tagesschau, als es zum zehnten Mal piept.

„Bewusstlose Person, männlich, Alter unbekannt, Hinterhof Herrmannstr. 26“.

Ich schlüpfe in meine Stiefel und laufe anschließend die breite Treppe hinunter in die Fahrzeughalle. Jan ist vor mir im Notarztauto. Eine Premiere, war ich doch bislang immer der Erste. Der 48-jährige Hauptbrandmeister hat die Ruhe weg, sehr angenehm.

„Was ist mit dir los? Krank? Du bist vor mir im Auto?“ frage ich spöttisch.

„Nee, nee. Bei mir ist alles in Ordnung. Aber irgendwann muss ich ja mal die Medikamente in unserem Rucksack auffüllen. Und so war ich schon hier in der Halle, als es gepiept hat.“ antwortet er mit einem Augenzwinkern.

„Wo geht’s hin?“ frage ich ihn.

„Oh, in einen ganz, ganz hübschen Teil der Stadt! Da wohnen nur Intellektuelle und Promis“.

Sein ironischer Unterton ist mehr als deutlich. Dann spricht Jan weiter:

„Im Ernst: die Herrmannstraße liegt im Assi-Viertel Nr. 1 unserer Stadt. Bin gespannt, was uns diesmal dort Schönes erwartet.“

Keine fünf Minuten später erreichen wir die genannte Adresse und stehen vor einer endlosen Häuserzeile heruntergekommener Backsteinbauten aus den 1920er Jahren. Jan hat mir nicht zu viel versprochen: Unrat ohne Ende auf dem Gehweg vor mir, etwas weiter die Straße abwärts kramt ein alter Mann in zerschlissenem Anzug im orangenen Papierkorb einer Bushaltestelle. Immerhin gibt’s aber Musik – trotz aller Trostlosigkeit. Aus einer Erdgeschoßwohnung dröhnt Andrea Berg mit „Du hast mich 1000 mal belogen“ aus einem offenen Fenster. Zimmerlautstärke wird hier anders definiert.

Da der Rettungswagen jetzt auch gerade eintrifft, müssen Jan und ich nur die kleine Medikamententasche aus dem NEF mitnehmen. Den Rest bringt die RTW-Besatzung. Wir gehen durch eine massige Holztür, die sich erst mit etwas Kraftaufwand unter Quietschen öffnen lässt, in das Haus mit der Nummer 26. Jetzt geradeaus weiter in Richtung Hinterhof.

Vor einer Gartenbank und umgeben von Plastiktüten und einer leeren Flasche Wodka liegt Juri. Neben seinem Kopf sehe ich eine kleine Blutlache. Etwas abseits steht eine zarte alte Frau in blauer Kittelschürze. Als sie uns sieht kommt sie näher sagt:

„Diese ewige Sauferei. Seit zwei Stunden liegt der Typ nun schon hier und regt sich nicht. “

„Kennen Sie den Mann?“ frage ich zurück.

„Nein. Irgendwann heute Nachmittag war er plötzlich hier im Hof. Er hat sich auf die Bank gesetzt und die ganze Zeit rumkrakelt und gepöbelt. Total betrunken. Als ich ihm aus meinem Fenster zu rief, dass er gehen soll, hat er mich als ‚alte Schlampe‘ beschimpft und weiter rumgeschrien. Irgendwann war es plötzlich leise. Da habe ich nochmal aus meinem Fenster geschaut und sah ihn hier liegen. Als er sich auch nach Längerem nicht gerührt hat, habe ich die Rettung angerufen.“

Ich beuge mich hinunter zu Juri. Eine tierische Alkoholfahne schlägt mir entgegen. Ich beginne mit einem schnellen Check. Er atmet und sein Puls ist gut zu tasten. Ganz gleichmäßig puckert die Speichenarterie unter meinem tastenden Finger. Ich entdecke eine kleine Kopfplatzwunde oberhalb der rechten Schläfe, die wohl für die Blutlache neben ihm verantwortlich ist. Nun ein Blick in seine Pupillen. Dazu öffne ich Juris geschlossene Lider mit meiner linken Hand. Er lässt das ohne Murren geschehen, merkt es offenbar gar nicht. Ich kann nichts Besonderes feststellen, außer knallgelben Bindehäuten. Ein erstes Zeichen für einen Leberschaden nach langjährigem Trinken, typisch für schwere Alkoholiker.

Dann versuche ich Juri wach zu kriegen. Rütteln und Schütteln nutzen gar nichts. Also Ärgern. Ich kneife ihn in die empfindliche Haut an der Innenseite seines rechten Unterarmes. Außer einem Grummeln bleibt Juri unbeeindruckt.

Die weitere körperliche Untersuchung des Mannes zeigt bis auf die deutliche Verwahrlosung keine Auffälligkeiten.

„Bitte verkabeln!“ sage ich zu den Jungs vom Rettungswagen. Jan reicht mir in der Zwischenzeit alles, was ich brauche, um einen Tropf zu legen.

Nach kurzer Zeit haben wir alle wichtigen Werte, die sämtlich im Normbereich sind.

„Alle Tage sind gleich lang, aber unterschiedlich breit!“ kommentiert Jan den Zustand unseres Patienten.

„Ok, machen wir ihm noch einen Verband an den Kopf und dann ab in die Klinik.“

Als der Verband fertig ist legen wir Juri gemeinsam auf die Trage und legen ihm die Sicherheitsgurte an. Da hebt er plötzlich den Kopf und fragt mit schwerer Zunge:

„Was is‘ denn hier los?“

„Guten Abend. Sie haben sich am Kopf verletzt. Wir sind vom Rettungsdienst und bringen Sie jetzt in’s Krankenhaus!“ antworte ich ihm mit ruhigem und höflichem Ton.

Juri lässt es zunächst unkommentiert friedlich geschehen und legt seinen Kopf wieder auf die Trage.

Als wir die Trage Minuten später gerade durch die Holztür schieben, bäumt sich Juri auf und fängt unvermittelt an uns zu beschimpfen:

„Was soll die Scheiße? Was macht ihr Arschlöcher mit mir?“

Ich versuche ihn zu beruhigen:

„Sie habe eine Wunde am Kopf, die genäht werden muss. Keine große Sache. Ist sicher fix erledigt.“

Meine Worte erreichen Juri nicht. Er randaliert und wurschtelt auf der Trage hin und her, so lange, bis er eines seiner Beine aus den Gurten befreit hat. Ohne Vorwarnung tritt er Jan mit voller Wucht in den Rücken. Der stöhnt kurz auf und nimmt sofort einen Schritt Abstand zur Trage, so dass der nächste Fußtritt in der Luft endet.

„Alles ok?“ frage ich ihn.

Jan nickt und antwortet: „Geht schon.“

„Ruf die Leitstelle an. Sie sollen uns die Polizei schicken. Ohne deren Hilfe wird das nichts mit der Fahrt in die Klinik.“

Gesagt, getan. Wenige Minuten später rasen zwei Polizeiautos mit Blaulichtkaracho zu uns. Vier Polizisten steigen aus, drei mit europäischer Durchschnittskörpergröße, einer deutlich darüber. Allesamt dicke Lederjacken, Schusswesten, schwarze Lederhandschuhe.

„Was gibt’s?“ fragt der Zwei-Meter-Beamte.

Ich berichte ihm kurz was geschehen ist und daß wir polizeiliche Hilfe benötigen, um Juri im Krankenhaus untersuchen zu lassen.

Der riesen Kerl tritt von hinten an die Trage, legt seine rechte Hand auf Juris Schulter und sagt mit strengem Ton:

„Guten Tag. Sie kommen jetzt mit in’s Krankenhaus. Keine Diskussion. Wenn Sie aggressiv werden, werde ich das auch. Verstanden?“

Juri ist sichtlich vom eindrucksvollen Polizisten hinter ihm erschrocken und nickt kleinlaut.

„Alle Achtung. Auf die richtige Ansprache kommt’s an.“ sage ich in die Runde.

„Man muss die Menschen da abholen, wo sie sind!“ antwortet der Hüne und grinst über sein ganzes Gesicht.

Als Juri dann im Rettungswagen ist, steigt der einfühlsame Polizist mit hinten ein und setzt sich neben den Patienten.

„Ist wohl besser ich begleite Euren Kunden!“

„Ja. Sehr gut. Sie haben ihn abgeholt, dann können Sie ihn auch abgeben.“ antworte ich und zwinkere dem Beamten zu.

Kurze Zeit später startet der Rettungswagen dann mit Polizeischutz in Richtung Klinik. Jan und ich fahren direkt zurück zur Feuerwache.

Circa 20 Minuten später kommt dann auch der Rettungswagen zurück, nachdem die Besatzung Juri bei den Chirurgen der Klinik abgegeben hat.

„Und, noch alles friedlich gelaufen?“ frage ich den Fahrer des RTW.

„Du glaubst es nicht: ein Wunder ist geschehen. Das Wunder vom Rettungswagen!
Juri ist ohne Nasenbluten in den Rettungswagen rein und mit Nasenbluten aus dem Rettungswagen raus. Ob das was damit zu tun hat, dass er während der Fahrt versucht hat den Polizisten zu treten ?“



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Lektorat: T. Kehler

Foto: Jacob Bentzinger via unsplash.com