2003. Kurz vor 19 Uhr in Schwaben.

Ich habe die Schnauze voll. Ein furchtbarer 24 Stunden Dienst liegt hinter mir. Ich warte sehnsüchtig auf meine Ablösung.

Gestern Abend gleich kurz nach Dienstbeginn der erste Alarm.

„Reanimation, weiblich 85, Altenheim Sonnentau“

Als wir nach zehn Minuten die Seniorenresidenz erreicht haben, kommt uns einer der Sanis vom Rettungswagen entgegen.

„Müsst Euch nicht beeilen. Die Frau ist schon steif!“

Ich gehe mit Bodo dem Fahrer des Notarztwagens in das Zimmer der alten Dame. Der Sani hatte recht. Die Leichenstarre hat bereits den Unterkiefer und die Fingergelenke erreicht. Ich rede kurz mit der zuständigen Altenpflegerin, werfe einen Blick in die Pflegedokumentation und mache dann mit Bodos Hilfe die komplette äußere Leichenschau. Abschließend fülle ich den amtlichen Leichenschauschein aus. “Natürlicher Tod im Rahmen eines fortgeschrittenen Dickdarmkrebses mit Tochtergeschwülsten in Lunge und Leber“.

Zurück auf der Rettungswache mache ich den Fernseher an, setze mich in den Sessel und lege die Füße hoch. Es läuft irgendeine Doku über die gefährlichsten Schulwege der Welt. Richtig gefesselt hat mich der Bericht aber offenbar nicht, denn ich werde mitten in der Nacht gegen 2 Uhr vom Pieper in meiner Hosentasche geweckt. Der Fernseher läuft noch.

„Telefonreanimation, männlich, 78, Hasenstr. 12“

Die Straßen sind menschenleer nachts um zwei. Mit Blaulicht erreichen wir die angegebene Adresse schon nach acht Minuten.

Vor dem Einfamilienhaus steht eine ältere Frau und nimmt uns in Empfang.

„Hinten im Wohnzimmer liegt mein Mann!“

Ich hole rasch das EKG und den Notfallrucksack aus dem Auto und haste an der Dame vorbei in das Haus. Bodo folgt mir mit dem schweren Beatmungsgerät. Durch einen schmalen Flur erreichen wir das Wohnzimmer. Auf dem Sofa an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers liegt ein Opa. Ganz friedlich, so als würde er schlafen. „Hier reanimiert niemand“ denke ich und beginne sofort mit der Untersuchung des Mannes. Keine Atmung, kein Puls.

„Schnell, runter vom Sofa auf den Fußboden!“ sage ich zu Bodo.

Gemeinsam zerren wir den alten Herrn auf die Erde. Bodo beginnt sofort mit der Herzdruckmassage. Ich reiße derweil den Rucksack auf, nehme mir den Beatmungsbeutel und presse zwei-, dreimal Luft in die Lungen unseres Patienten.

Da kommen auch schon die Jungs vom Rettungswagen. Jetzt zu viert läuft es wie am Schnürchen: EKG, Tubus in die Luftröhre, Tropf in eine Vene in der Ellenbeuge, Adrenalin und durchgehend Herzdruckmassage.

Nach 30 Minuten hören wir auf. Ohne Erfolg. Der Mann ist tot.

Ich gehe zu der alten Dame und erzähle ihr mit Kloß im Hals, dass wir ihren Mann nicht mehr retten konnten. Sie nimmt es gefasst auf und erzählt mir, dass ihr Gatte schon lange keinen Lebensmut mehr besaß, nachdem er vor gut zehn Jahren einen schweren Schlaganfall hatte. Ich frage Sie, ob ich andere Angehörige anrufen soll, die ihr nun zur Seite stehen könnten. Sie schüttelt den Kopf und meint:

„Nein. Wir hatten nur uns. Nun bin ich ganz allein.“

Ich lege meinen Arm um die Frau und sage:

„Vielleicht hilft es Ihnen ja, wenn ich versuche den Dorfpastor zu erreichen? Oder unser Krisenteam?“

„Junger Mann, ich war als ganz junge Frau fast den ganzen Krieg auf mich allein gestellt und ebenso die lange Zeit als mein Mann in russischer Gefangenschaft war. Dazu die letzten Jahre, nachdem mein Mann den Schlaganfall hatte. Ich schaffe das jetzt auch. Bitte lassen Sie mich allein mit meinem Hans!“

Mir schnürt es den Hals zu.

Der Rest des Einsatzes ist notwendige Routine: vollständige Leichenschau, Krankenunterlagen, Sterbedokumente.

Als wir zurück auf der Wache sind, fangen die ersten Vögel an zu zwitschern. Mir fällt es nicht nur deshalb schwer nochmal einzuschlafen. Meine Gedanken kreisen um die alte Frau. Irgendwann versinke ich in einen unruhigen Schlaf.

Gegen 10.30 Uhr werde ich unsanft vom Alarmmelder geweckt.

„Pat. vermutlich ex, Anrufer Müller, Gardeweg 92“

Noch schlaftrunken ziehe ich mich an. Auf dem Weg zur Fahrzeughalle schnell im Badezimmer ein kurzer Zwischenstopp. Einmal kaltes Wasser übers Gesicht, rasch abtrocknen und jetzt ab ins Auto.

Bodo und ich kommen nach etwa 14 Minuten im Gardeweg an. Vor dem Mehrfamilienhaus stehen einige Menschen. Als wir aus dem NEF aussteigen, tritt eine junge Frau aufgeregt auf uns zu.

„Guten Tag, mein Name ist Christine Müller. Ich bin die Putzhilfe von Frau Soltermann. Einmal in der Woche mache ich bei Frau Soltermann sauber. Vorhin bin ich mit meinem Schlüssel in die Wohnung. Und da lag sie dann regungslos und eiskalt auf dem Küchenboden.“

Ich bitte Frau Müller zur genannten Wohnung voran zu gehen. In der Küche ist die Situation dann exakt so, wie von der Putzhilfe gerade beschrieben: bäuchlings liegt die weißhaarige Frau eiskalt und leichenstarr vor dem Küchentisch auf dem Linoleumboden. Frau Soltermann ist tot.

Ich wende mich Frau Müller zu.

„Können Sie mir irgendwas über Vorerkrankungen der Rentnerin sagen?“

„Frau Soltermann war vor kurzem längere Zeit im Krankenhaus. Hatte was am Herzen. Näheres kann Ihnen Dr. Christ erzählen.“

Also telefoniere ich jetzt mit dem Hausarzt der Verstorbenen.

„Ja, Frau Soltermann war sehr schwer herzkrank, hatte bereits einem halben Jahr einen ausgedehnten Herzinfarkt. Außerdem Diabetes und eine hochgradige Einschränkung der Nierenfunktion!“ berichtet mir der Kollege. Abschließend bietet er sich freundlicherweise an den Sohn der Verstorbenen anzurufen und ihn vom Ableben seiner Mutter in Kenntnis zu setzen.

Ich erkläre Frau Müller kurz, was ich mit Dr. Christ besprochen habe und verabschiede mich von ihr. Erneut gibt mir Bodo nun die Mappe mit den Formularen für die Leichenschau. Den Ablauf haben wir beide ja in den letzten Stunden genug geübt.

Zurück auf der Wache gibt’s erstmal etwas zu essen. Mein Magen hängt auf halbacht. Die erste Mahlzeit seit gestern Abend. Außenstehende würden das, was ich hier mit Messer und Gabel veranstalte, vermutlich als Schlingen oder Fressen bezeichnen.

Der Nachmittag ist ruhig. Kein einziger Einsatz. Die drei Toten sind mir im Kopf. Obwohl ich schon reichlich mit dem Tod konfrontiert war, empfinde ich diese Situationen nie als Routine. Vorallem wenn trauernde Angehörige anwesend sind, wünsche ich mir manchmal ganz rasch in einem schwarzen Loch verschwinden zu können…

„In zwei Stunden ist dieser Todesdienst endlich vorüber“ denke ich beim Blick auf meine Uhr, als es erneut piept.

„Reanimation, Praxis Reimer, Minzenstr. 6“

Auf der Fahrt zur Praxis des Allgemeinmediziners meint Bodo zu mir:

„Bitte nicht nochmal Leichenschau!“

Im Sprechzimmer des Arztes liegt ein großer, dicker Mann auf der Untersuchungsliege. Der Hausarzt hält einen Beatmungsbeutel auf das Gesicht des Patienten und eine Arzthelferin leistet Herzdruckmassage.

„Gut, dass Sie kommen!“ empfängt er mich Kollege Reimer. „Herr Holz stellte sich heute mit heftigen Schmerzen im Brustkorb bei mir vor. Gerade als ich anfing ihn zu untersuchen, machte er die Augen zu.“

Und dabei bleibt es auch. Herr Holz macht die Augen nie mehr auf. Trotz maximalem Einsatz.

Nach 45 Minuten beenden wir im Einvernehmen mit Dr. Reimer den Versuch Herrn Holz wieder ins Diesseits zu holen.

Mit einem „Ich kümmere mich um alles Weitere. Danke.“ entlässt uns Dr. Reimer aus unserer Pflicht.

„Ich habe für heute keinen Bock mehr!“ sage ich zu Bodo auf der Rückfahrt zur Wache.

Als wir um kurz vor 19 Uhr auf den Hof rollen, steht Notarztkollege Johannes gottseidank schon bereit.

„Manometer, ich habe für heute richtig die Schnauze voll!“ begrüße ich ihn.

„Was war denn los?“ fragt er irritiert.

„Vier Tote in 24 Stunden. Ich mag jetzt nicht mehr.“ antworte ich.
Johannes lehnt sich an die Wand in der Fahrzeughalle und sagt dann ganz gelassen:

„Hör ma‘, das ist ja noch gar nichts. Ich hatte mal in einem Dienst fünf Tote. Zwei davon nachts bei Blutmond, die zählen doppelt!“

Ich ziehe mich schnell um und fahre nachhause.

Die goldene Sichel des aufgehenden Mondes lächelt mir zu.



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Lektorat: T. Kehler

Foto: Adrian Swancar via unsplash.com