Für Wölli. RIP.


17.30 Uhr im Winter 1998 in der Schwabenmetropole. Ich habe den Notarzt-Pieper in meiner Kitteltasche und warte in der chirurgischen Ambulanz sehnsüchtig auf meine Ablösung. Heute Abend um 20 Uhr gehts zum Weihnachtsingen in die Schleyerhalle.

„Wir warten aufs Christkind!“ mit den „Roten Rosen“.

Freue mich schon ewig auf dieses Konzert und will pünktlich die Klinik verlassen, um nichts vom Konzert zu verpassen. Aber es kommt, wie es immer kommt, wenn man was vor hat: es piept kurz vor Feierabend.

„Bewusstlose Person, männlich, 20, Schleyerhalle“

Was? Schleyerhalle? Die Rettungsleitstelle will sich über mich lustig machen?!

Schnell den Kittel gegen die rote Jacke tauschen und ab zum Haupteingang der Klinik, wo Wölli, der eigentlich Wolfgang heißt, bereits im Notarztauto auf mich wartet.

Wir kommen trotz Blaulicht und Martinshorn nur sehr schleppend im Berufs- und Weihnachtsshoppingverkehr voran, so daß wir fast 15 Minuten von Stuttgarts Mitte bis Bad Cannstatt unterwegs sind. Über Funk kriegen wir die Meldung zum Haupteingang der riesigen Veranstaltungshalle zu fahren. Der Hallen-Vorplatz ist voll mit Fans der Toten Hosen und mit Bierdosen… Einlass ist erst um 19.30 Uhr, aber die Stimmung schon jetzt sehr ausgelassen. Als ich aus dem Auto aussteige, höre ich eine Horde Jugendlicher gröhlen:

„Ein belegtes Brot mit Schinken – Schinken! Ein belegtes Brot mit Ei – Ei!“.

Vor dem Portal dann eine Menschentraube in deren Mitte die zwei Sanis vom Rettungswagen gerade beginnen Jan zu untersuchen.

„Was ist passiert?“

„Die Kumpels von Jan haben uns erzählt, daß sie aus Karlsruhe mit dem Zug zum Konzert angereist sind und schon auf der Fahrt ordentlich getrunken haben. Jan hat es wohl übertrieben. Jägermeister satt. Mit Mühe und auf wackeligen Beinen haben sie ihn noch bis hierher geschafft. Dann isser aber zusammengebrochen.“

„Ok. Bitte verkabeln. Blutdruck, EKG, Sauerstoffgehalt im Blut und Zucker. Ich untersuche in der Zwischenzeit!“

Jan ist vielleicht 16, höchstens 17 Jahre alt.

Er liegt auf dem Rücken und atmet regelmäßig. Seine Augen sind geschlossen. Als ich ihn antippe reagiert er nicht. Ich werde etwas gröber und stoße ihn an. Nix. Auch als ich ihn letztlich in die empfindliche Haut am Hals kneife zeigt er keine Reaktion. Ein schneller Griff, um zu fühlen, ob er einen Pulsschlag hat. Die dicke Ader an Jans Hals pulsiert kräftig unter meinen Fingern. Nun ein Blick in seine Augen: die Bindehäute sind gerötet, so wie es nach Alkoholkonsum nicht ungewöhnlich ist. Die Pupillen sind aber unauffällig. Größere Verletzungen hat er sich beim Sturz nicht zugefügt. Allerdings hat er sich eingepinkelt. Auch nicht ungewöhnlich, wenn man denn nur betrunken genug ist. Da entspannen sich nicht nur Geist und Seele, sondern auch die Schließmuskeln…

„Alle Werte in Ordnung. Druck 110 zu 70, Puls 100, Zucker 130, Sättigung 99%“ sagt mir Wölli.

Offenbar eine „normale“ Alkoholvergiftung, wie ich sie schon unzählige Male bei Bierzelt-Diensten auf der „Cannstatter Wasen“ erlebt habe.

„Ich lege ihm noch einen Tropf und ihr fahrt ihn dann zum Ausnüchtern in die Klinik!“

Als der Tropf liegt packen wir unser Equipment zusammen. Danach wollen wir den jungen Mann gemeinsam auf die Krankentrage heben. Ich halte den Kopf und gebe das Kommando zum Hochheben.

In dieser Sekunde erbricht sich Jan in einem riesen, braunen Schwall über mich. Ich bin von oben bis unten geduscht. Es riecht erbärmlich nach Bier, sauren Magensäften und Jägermeister. Mir wird schlecht. Ich könnte sofort „zurückbrechen“. Stattdessen schüttele ich kurz die gröbsten Essensreste von Hand und Ärmel und drehe Jans Kopf zur Seite, damit der vermeintliche Rest in seinem Mund abfliessen kann. Dann bringen wir Jan zum Krankenwagen.

Klappe auf, Patient rein, Klappe zu.

Erstmal raus aus meiner Jacke.

Plötzlich fängt der Überwachungsmonitor an zu piepen. Der Sauerstoffgehalt in Jans Blut ist abgefallen. Nur noch 90%.

„Kacke. Er hat aspiriert. Schnell, die Absaugung! Und Sauerstoff!“


Aspiration bedeutet, dass Fremdkörper (Essen, Erbrochenes, Legosteine usw.) in die Luftwege gelangt sind und diese verstopfen. Die Folge kann Ersticken sein. Mehr zum Thema gibt es hier.


Jans Mund ist noch immer voll mit Essensresten. Mit dem rechten Zeigefinger versuche ich Mundhöhle und Rachen so gut es geht von den dunklen Brocken zu befreien. Er lässt das alles ohne Gegenwehr geschehen.

„Sättigung 85%“.

Wölli reicht mir den Absaugschlauch. Die Maschine brummt, kann jedoch nur wenig braune Flüssigkeit aus der Tiefe des Halses zu Tage fördern. Nächster Versuch. Ich bemühe mich den Katheter in eine andere Richtung zu dirigieren, was jedoch mit dem biegsamen Material kaum gelingt. Nix. Kein Erfolg.

„Sättigung 78%“.

„Intubationsspatel!“

Wölli reißt die oberste Schublade hinter sich auf und gibt mir das silberfarbene Instrument, mit dem ich Jans Zunge zu Seite halten kann, um in der Tiefe des Halses den Eingang in die Luftröhre zu sehen. Ich klappe den Spatel aus, das Licht an der Spitze des Instrumentes leuchtet für eine Zehntelsekunde, dann ist es wieder dunkel. Scheiße. Auch das noch. Glühlämpchen kaputt.

„Sättigung 67%“.

„Schnell, anderen Spatel!“

Zack, Jans Mund auf, seine Zunge auf den Spatel und zur Seite damit. Den Eingang in die Luftröhre kann ich nicht sehen. Der gesamte Luftweg ist durch Essensreste zugedeckt und verstopft.

„Absaugung!“

Mit der linken Hand halte ich den Intubationsspatel, mit der rechten den Absaugschlauch.

„Sättigung 60%. Der Bengel ist schon komplett blau!“.

„Kacke, Absaugen klappt so auch nicht. Der Brei lässt sich nicht wegsaugen! Zu groß oder zu dickflüssig für den Schlauch.“

„Sättigung 55%“.

„Magill-Zange!“

Wölli sucht in der Schublade nach der Spezialzange, mit der man tief im Rachen Fremdkörper entfernen kann. Mir zittert schon der ganze linke Arm. Total anstrengend den Intubationsspatel so lange zu halten. Endlich gelingt es mir die ersten Brocken mit der Zange zu fassen und zu entfernen.

Ich kämpfe selbst mit der Übelkeit. Dieser Gestank!

Und weiter. Die nächsten Stückchen. Weiter. Weiter. Scheinbar ohne Ende. Irgendwann sehe ich den Eingang zur Luftröhre. Alles sauber. Jan atmet nun ohne Hindernis.

„Sauerstoffsättigung steigt wieder. Jetzt 67%“.

„Gib mir noch einen Tubus!“

Ich lege Jan den Beatmungsschlauch in die Luftröhre. Auch dem Manöver macht er keine Anstalten sich zu wehren. Dann bringen wir ihn in die Klinik.

Als wir dort eintreffen ist die Sauerstoffsättigung wieder im Normbereich.

Eine Stunde später bin ich in der Schleyerhalle. Der 10.000 stimmige Chor singt gerade zusammen mit Campino eines der besinnlichen Weihnachtslieder:

„Hail viagra, holy night! Everybody’s satisfied!“.

 

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PS: Ich habe mich nach Entfernung der Speisereste zur Intubation entschieden, da Jan wichtige Schutzreflexe (z.B. Husten bei Verschlucken) infolge der Alkoholvergiftung fehlten. Zum Glück! Wie sich im Krankenhaus herausstellte hatte er reichlich Magensäfte in die Lunge bekommen. Das führte dann zu einem vollständigen Lungenversagen.

Er wurde mehrere Wochen auf der Intensivstation mit größtem Aufwand behandelt. Zwischenzeitlich war es so dramatisch, daß die Intensivmediziner nicht mehr an sein Überleben geglaubt hatten.

PPS: Erkenntnis des Tages: Wenn schon mit „10 kleine Jägermeister“ auf die Intensivstation, dann auf jedenfall eines nicht vergessen – „Steh auf, wenn du am Boden liegst!“

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Bildnachweis: Peter Widmann / imago

Lektorat: T. Kehler