Rückschau – Was war Klaus widerfahren?
„Ja, ja! Mir gehts gut. So gut wie lange nicht mehr! Ich freue mich auf das Wochenende zuhause. Endlich mal wieder im eigenen Bett schlafen. Nach so langer Zeit!“
„Na dann genießen Sie die Zeit mit Ihrer Frau. Ich wünsche Ihnen zwei schöne Tage. Wir sehen uns dann am Montag wieder!“
Klaus reicht Frau Dr. Müller die Hand und verlässt das Arztzimmer.
„Schön, wie er sich entwickelt hat. Vor einem halben Jahr sah das ja noch ganz anders aus!“ denkt sich die Psychiaterin und wendet sich dem Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch zu.
Marion geht zur gleichen Zeit aufgeregt im Foyer der Landesklinik auf und ab. Sie ist mit Klaus schon fast 28 Jahre verheiratet.
Seit einem halben Jahr ist ihr Mann aber nicht mehr zuhause gewesen.
Im Herbst vergangenen Jahres war es, als Klaus sich das Leben nehmen wollte. Mit Tabletten. Unmengen von Tabletten. Er schluckte alles was er fand: Blutdruckmittel, Paracetamol, Erkältungsdragees und Aspirin. Insgesamt fast 100 Pillen. Dazu eine halbe Flasche Wodka. Marion kam damals gerade noch rechtzeitig vom Sport zurück. Sie fand Klaus bewusstlos im Wohnzimmer vor dem Sofa liegend. Auf dem Tisch vor ihm die leeren Tablettenschachteln, der Rest vom Wodka und ein Abschiedsbrief. Darin stand in knappen Worten mit krakeliger Handschrift:
„Ich kann nicht mehr. Meine Kraft ist am Ende. Verzeih mir was ich tue! Es gibt für mich keinen anderen Ausweg. Ich wünsche Dir viel Glück! Dein Klaus.“
Nach zehn Tagen Akutmedizin wurde der 52-jährige direkt von der Uniklinik in die Psychiatrie verlegt. Geschlossene Männerabteilung wegen anhaltender Suizidgefahr. Verriegelte Türen, Gitterstäbe vor den Fenstern und eine handvoll Psychopharmaka morgens und abends, die ihn seine Umwelt wie durch Watte erleben ließen.
Klaus’ Freiheit war vorübergehend weg, aber nach einigen Wochen ging es aufwärts.
Erst nur ganz langsam. Dann jedoch mit immer größeren Schritten. Er fühlte sich täglich besser, nahm regelmäßig an den Einzel- und Gruppentherapien der Klinik teil und war sogar beinahe jeden Tag im Sportraum. „Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper!“ stand dort auf der Wand geschrieben.
Seine Lebensfreude war zurückgekehrt.
Auch die behandelnden Ärzte waren einigermaßen überrascht vom schnellen Fortgang seiner Genesung. Und so war es dann nur konsequent, dass Klaus nach einem Monat von der geschlossenen Abteilung auf die „Allgemeinstation“ kam. Er genoss die zurückgewonnene Freiheit. Klaus besorgte zusammen mit anderen Erkrankten den wöchentlichen Einkauf, kochte für seine Mitpatienten und half den Krankenschwestern seiner Station wo es nur ging.
Heute an diesem Februartag nun ein weiterer großer Schritt in Richtung auf seine vollständige Genesung. Als Klaus Marion in der Vorhalle der Klinik sieht, werden seine Schritte schneller und seine Augen beginnen zu leuchten. Die beiden fallen sich in die Arme, halten sich lange Momente fest gedrückt in den Armen. Dann gehen sie ohne ein Wort zu sagen durch den kalten Nieselregen zum Parkplatz, wo das Auto steht. Knapp 40 Kilometer sind es nun noch bis zuhause.
Auf halber Strecke hält Marion an einer Tankstelle an.
„Ich mache nur rasch den Tank voll, dann gehts auch schon weiter!“
Klaus nickt still. Und während sich Marion jetzt um das Auto kümmert, schaut sich Klaus im Auto um.
„Muss ich demnächst mal wieder putzen. Innen und außen. So schmutzig war unser Auto lange nicht!“ denkt er und beginnt auch gleich die Handschuhablage vor ihm aufzuräumen. Alte Parkhausbelege, Quittungen, eine leere Schachtel Kinderschokolade.
„Kann alles in den Müll!“ sagt er leise und schüttelt den Kopf.
Da hält er plötzlich einen Brief in der Hand. „Einschreiben“ steht da mit dicken Lettern drauf. Und weiter: „An Klaus und Marion Meier“. Er öffnet den Briefumschlag und beginnt zu lesen.
Ihm schnürt es schon beim Lesen des ersten Absatzes die Kehle zu…
Kurz bevor Marion wieder in’s Auto steigt, legt er das Einschreiben zurück in die Ablage.
„Dann wollen wir mal weiterfahren!“ sagt Marion Sekunden später, schließt die Fahrertür und startet den Motor.
Ihr Mann antwortet nicht. Sagt keinen Ton. Klaus bleibt nach außen ganz ruhig, im Inneren jedoch kocht er. 1000 Gedanken rasen ihm durch den Kopf. Er hat das Gefühl, dass sein Schädel gleich platzt.
Vier Kilometer später führt die schnurgerade Kreisstraße die Eheleute durch ein kleines Dorf. Klaus ist immer noch still, scheint gedankenversunken.
„Klaus, ist alles in Ordnung? Du bist so ruhig?“ fragt Marion und gibt am Ortsausgang von Klein Dahlum wieder Gas.
Da öffnet ihr Mann unvermittelt seinen Sicherheitsgurt, reißt im gleichen Moment die Beifahrertür auf und springt bei etwa 60 km/h aus dem fahrenden Auto. Er klatsch auf den nassen Asphalt, überschlägt sich einige Male und bleibt nach gut 40 Metern regungslos am Straßenrand liegen…
PS: Klaus hatte sich neben der Unterarmfraktur drei Brustwirbelkörper gebrochen. Er lag insgesamt knapp drei Wochen in der Unfallchirurgie. Anschließend hat er seine Therapie in der Landesklinik fortgesetzt.
Im genannten Einschreiben, das Klaus zum Sprung aus dem Auto veranlasste, drohte die Sparkasse den Eheleuten mit der Zwangsversteigerung ihres Einfamilienhauses. Marion und Klaus hatten einzelne Kreditraten nicht begleichen können.
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Fotonachweis: David Hoffmann via unsplash.com
Lektorat: T. Kehler